Viele von uns geben sich tatsächlich jeden Tag Mühe, entsprechend unserer Werte möglichst moralisch gut zu handeln. Warum tun wir dann trotzdem manchmal etwas, das eigentlich gar nicht zu uns passt, z.B. Mc Donalds boykottieren, aber dann mit dem Auto zum Supermarkt fahren, um eine Ananas zu kaufen, das Waschmittel selber herstellen aber das in Plastik verpackte Gemüse in den Einkaufswagen legen oder beim Biobauern einkaufen aber den ätzenden Rohreiniger bei Verstopfung einsetzen.
Alles Beispiele für das Phänomen „moralische Lizenzierung“. Verschiedenen Studien zufolge gibt es bei uns Menschen eine Art moralisches Konto, auf das wir einzahlen, wenn wir uns moralisch in einem Bereich einwandfrei verhalten. In anderen Lebensbereichen setzen wir dann gerne weniger strenge Maßstäbe an. Auch wenn wir das Verhalten dann als moralisch nicht gut bewerten, ziehen wir dies gerne einfach von unserem moralischen Konto ab. Und erst, wenn wir mit unserem Konto in die Miese geraten, empfinden wir Schuldgefühl. Das lassen zumindest einige Studien vermuten.
Menschen, die in der Vergangenheit gesellschaftlich anerkannte, moralische Verhaltensweisen gezeigt haben, fühlen sich demnach in einer anderen Situation dazu berechtigt, sich unmoralisch zu verhalten. Aber auch die Erinnerung an gesellschaftlich erwünschte Verhaltensweisen in der Vergangenheit lässt Studien zufolge Menschen schädlichere Einstellungen zeigen. Und nicht zuletzt erlaubt es die Antizipation künftigen moralischen Verhaltens einer Person, sich unmoralisch zu verhalten. Die Forschung nimmt an, dass diese Mechanismen auf dem Prinzip des Strebens nach Kohärenz basiert – Ausgeglichenheit ist ein zentraler Aspekt im Überleben der Menschheit.
Das ist natürlich etwas hinterhältig und kann dazu führen, dass wir uns – bei allem Streben nach einem positiven und möglichst nachhaltigen Verhalten – eine Rechtfertigung zaubern, um den bequemen Weg gehen zu können.
Vor allem bei einem drohenden Verzicht oder einem Mangelgefühl greifen wird dann gerne auf unser Moralkonto zurück und nehmen doch wieder das Auto, weil wir uns ja vorgenommen haben, am Wochenende endlich unser Fahrrad fit zu machen und dann immer damit zur Arbeit zu fahren. Oder wenn wir uns vor Augen führen, dass wir ja Mitglied im Naturschutzbund sind und immer mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren – dann kann man doch auch mal nach München fliegen, anstatt die Bahn zu nehmen.
Vor allem auch in den Zeiten von Corona kann die moralische Lizenzierung tückisch sein. Menschen, die ein starkes Mangelgefühl durch den Verzicht auf eine Shoppingtour haben oder im Supermarkt brav die Maske tragen, obwohl sie das eigentlich doof finden, könnten in der Folge an einem der nächsten Tage eine Geburtstagsfeier besuchen oder sich auch einfach mal mit den besten Freunden drinnen treffen.
Stangl, W. (2021). Moral Licensing. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
(https://lexikon.stangl.eu/16141/moral-licensing)
Monin, B., Mullen, E. (2015) Consistency Versus Licensing Effects of Past Moral Behavior. (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26393870/)
Effron, D. A., Merritt, A. C., Monin, B. (2010). Moral Self‐Licensing: When Being Good Frees Us to Be Bad
(https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/j.1751-9004.2010.00263.x)